22 Bahnen by Caroline Wahl

22 Bahnen by Caroline Wahl

Autor:Caroline Wahl [Wahl, Caroline]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783832182786
Herausgeber: DuMont Buchverlag
veröffentlicht: 2023-04-16T22:00:00+00:00


Eine Stange Mamba, Eistee Pfirsich, Eistee Zitrone, ein Pfandzettel 50 Cent von den beiden Eistees vom Vortag. Ich schaue in das Gesicht von Ida.

Ich: 1,60 Euro. Ich komme gleich.

Sie nickt, gibt mir das Geld wie immer passend und wortlos in die Hand und geht raus.

Draußen sitzt sie auf der Bank vor dem Supermarkt. Die rosafarbene Sonnenbrille im Gesicht, neben sich die Unibibliothek-Tasche, in der ein Zeichenblock, ein Mäppchen, die beiden Eistee, die Stange Mamba und 5 gelbe Mamba-Packungen, die von den letzten Tagen übrig geblieben sind, weil wir Zitrone nicht mögen, auf ihrem Schoß ein Buch. Ich bleibe stehen, und der Anblick, wie sich die rosafarbene Sonnenbrille mit den Zeilen mitbewegt und sie eine Seite nach der anderen umschlägt, macht mich glücklich. Ich wusste, dass Lesen ein guter Vorschlag sein würde. Lesen hat mir damals viel gegeben und gibt mir immer noch viel. Heute versuche ich, so viel Zeit wie möglich mit Mathe zu verbringen, weil das ein Ort ist, an dem ich zu Hause bin, aber ab und zu schafft es auch ein Roman in meine Hände. Mit Tintenherz ging es los, als ich gerade in die 5. Klasse gekommen war. Dass Meggie durch lautes Vorlesen Gegenstände und Menschen aus Büchern herauslesen konnte und sich im 2. Teil dann sogar in eine fremde Welt hineinliest, hat mich umgehauen. Wenn ich allein in meinem Zimmer war, habe ich immer wieder versucht, mich in eine andere Welt hineinzulesen, es hat aber nie funktioniert. Meistens lieh ich mir in der Stadtbibliothek Jugendbücher aus, aber oft schlug ich auch Bücher aus unserem Bücherregal zu Hause auf, und wenn mich die erste Seite neugierig machte, dann las ich weiter. Darunter viel Mittelalterkram von meinem Vater, den er nicht mitgenommen hatte, und Mamas Auswahl an Austen- und Brontë-Romanen. Die Gewissheit, dass ich vieles verlieren kann, einen Vater, eine Mutter, eine normale Kindheit, dass nichts sicher und beständig ist, dass aber Bücher trotz allem bleiben, dass mir niemand diese Geschichten, diese Welten wegnehmen kann, in die ich zu flüchten vermag, beruhigte mich und machte mich unverwundbar. Ich wusste: Egal, wie viel Scheiße da noch auf mich zukommt, dieses bisschen Glück kann mir niemand nehmen. Und Ida weiß das jetzt, glaube ich, auch. Das sehe ich in ihrem Gesicht, in dem sich so viel widerspiegelt, während sie liest, oder darin, wie sie die Seite knickt, bevor sie das Buch schließt, wie ihr Blick dann ins Leere geht und wie sie ein bisschen braucht, bis sie wieder ganz da ist.

Fast täglich begleitet sie mich in die Unibib, und während ich meine Masterarbeit und die These vorbereite, ist sie in irgendeinen Roman vertieft. Die Bibliothek ist ziemlich leer, weil die meisten Studenten nach der Klausurphase am See, im Schwimmbad oder auf Reisen sind und ihre Haus- und Abschlussarbeiten nicht während dieser Hitzewelle schreiben wollen. Ida und ich reden nicht. Wenn die Wanduhr 6 Uhr zeigt, packt Ida ihr Buch in die Plastiktasche, steht auf und schaut mich erwartungsvoll an, ich packe meine Bücher, Block und Bleistift in meinen Rucksack, und wir gehen.



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